Am andere Ende der Welt – Fortsetzung der Publikation in deutscher Sprache – Teil 2 (Anfang №4-12 – 2018, №1-5 – 2019) (31.08.2021)

 

Н. Косско

 

Das Jammertal

 

Keiner in unserer Siedlung konnte sich Arkagala ohne Tante Nina vorstellen, jene etwas grobschlächtige Frau mit der kratzigen, verrauchten Stimme und dem ziemlich losen Mundwerk. Und keiner konnte mit annähernder Genauigkeit sagen, wann sie da aufgetaucht und woher sie gekommen war. Sie war einfach da, war schon immer und ewig da, wie es schien, und alles andere war, wie sie sagte, uninteressant. Nur eines wusste man von ihr: sie war als blutjunges Mädchen auf die Kolyma in eines der Frauenlager gekommen, wegen angeblicher „antisowjetischer Umtriebe“. Den zehn Jahren Haft folgten dann weitere fünf wegen „schlechter Führung und Beleidigung des Führers, des Vaters aller Völker“. Aber auch danach ließ der Stalin’sche Moloch sie nicht aus seinen Klauen: lebenslängliche Verbannung auf der Kolyma war der Schlusspunkt des verpfuschten Lebens. Den Verbannungsort durfte sie sich aussuchen, mit einer Ausnahme: sie durfte ihren Wohnsitz nicht in der Hauptstadt des Kolyma-GULags Magadan nehmen. Tante Nina hatte so etwas auch gar nicht im Sinn, sie steuerte die 700 Kilometer entfernte Siedlung Arkagala an, weit hinter dem Kältepol. Den Grund wusste niemand, man hielt es für eine ihrer Marotten.

Tante Nina schien sich mit ihrem Schicksal abgefunden zu haben, mehr noch, sie war der lebenslustigste Mensch, den ich hier je getroffen hatte, und der gütigste. Denn jeder, der hier ankam, unbeholfen und unerfahren, kam unter ihre Fittiche, jedem, der ratlos und verzweifelt in dieser Wildnis landete, nahm sie die Angst und half, Mut schöpfen.

Für uns junge Backfische war sie die Beichtschwester und Ratgeberin in allen Lebensfragen, ihr vertrauten wir das an, was wir unseren Müttern nicht anvertrauen wollten, und unsere kleinen Geheimnisse waren bei ihr bestens aufgehoben.

Eines aber war sogar für uns Kinder verwunderlich: trotz des akuten Mangels an Frauen und dem enormen Überschuss an männlichen Einwohnern lebte Tante Nina allein und wehrte jeden Versuch der vielen Anwärter auf einen Platz in ihrem Heim und Herzen standhaft ab.

Das war mehr als ungewöhnlich, denn die wenigen unverheirateten Frauen hatten es hier weit gebracht in der Kunst, weibliche Reize in bares Gold umzumünzen. Die Männer hatten Geld zuhauf, wussten nicht, wohin damit, und ausgehungert wie sie waren, verschleuderten sie ihre ganze Habe für ein paar Tage oder Wochen scheinbaren Glücks. Sobald das Geld alle war, flogen die Nachtfalter weiter zum nächsten Opfer, das begierig darauf wartete, ausgesaugt zu werden.

Nicht dass man in der Siedlung Tante Nina dieses fragwürdige Glück gewünscht hätte oder ihre Lebensart missbilligte, aber man fragte sich doch immer wieder, warum sie alle Freier abblitzen ließ und allein blieb. Denn trotz der Spuren, die die Lagerhaft und die extremen Klimabedingungen auf ihrem Gesicht und Wesen hinterlassen hatten, war sie immer noch eine sehr stattliche Erscheinung.

Eines Tages, als ich nach der Schule bei ihr vorbeischaute, hörte ich nicht das übliche laute und fröhliche “Hereinspaziert!“ und sah mich, als ich trotzdem eintrat, unsicher in der dämmrigen Stube um. Tante Nina stand reglos am Fenster und schaute wie gebannt auf einen Punkt. Als ich ihrem Blick folgte, sah ich gerade die Kolonne der Häftlinge im Tor des Lagers verschwinden. Ein gewohntes Bild eigentlich, diese Rückkehr der Gefangenen von der Arbeit im Schacht. Was hatte denn Tante Nina da Interessantes entdecken können?

Ich kann mir noch rechtzeitig die Frage verkneifen, denn erst jetzt merke ich, dass sie weint – leise, bitterlich, untröstlich.

Ich erschrecke: „Tante Nina, bitte Tante Nina, was ist denn passiert?“

Sie will antworten, kann nicht, schüttelt nur verzweifelt den Kopf und heult laut auf.

„Was ist denn los, Tante Nina? Ist denn jemand gestorben?“ Mir scheint der Tod das schlimmste Unglück zu sein.

Abrupt hört sie auf zu weinen, schaut mich mit großen Augen verwundert an und meint unter Tränen: „Gestorben, ja gestorben, lieber wären wir gestorben, lieber wären wir jetzt tot, verscharrt irgendwo im Moor der Tundra, immer noch besser, als diese unerträglich Qual ...“, weint sie weiter und kann nicht aufhören.

Ratlos bringe ich ihr eine Blechtasse mit Wasser, versuche, sie zu beruhigen.

Als sie einigermaßen zu sich kommt, wird sie plötzlich aggressiv, schreit mich böse an: „Und warum fragst du nicht weiter, warum bohrst du nicht, wie die anderen, in meiner Wunde herum, warum befriedigst du nicht deine Neugier, ha?“

Ich bin sprachlos: Diese andere Tante Nina flößt mir Angst ein, ich erkenne sie nicht wieder. Und ich bin verletzt, tief verletzt von dem Menschen, dem ich nach meiner Mutter am meisten vertraue.

Wortlos packe ich den Griff meiner Schultasche und gehe mit gesenktem Kopf zur Tür.

„Warte, Emmi, so warte doch, bitte verzeih’ mir, ich wollte dich nicht kränken, aber es ist ja so schwer, immer die starke Frau zu spielen ... Komm’, setz’ dich, ich will versuchen, dir zumindest einiges zu erklären.“

Ich weiß nicht warum, aber ich verfalle in Panik, wenn Menschen, die ich für unfehlbar und unverletzlich halte, plötzlich ihre Schwächen zeigen. Vielleicht, weil mir in solchen Situationen bewusst wird, dass es keine Allheilmittel gegen die Widerwärtigkeiten des Lebens gibt, keine Tanten und Onkel, die mit ihnen fertig werden können, dass auch sie oft davor kapitulieren müssen. Das nimmt mir jedes Mal das Gefühl der Geborgenheit, lässt die Welt bedrohlicher erscheinen. Das Gebäude, aufgebaut auf dem Fundament des Vertrauens in die Allmacht der Erwachsenen, stürzt dann krachend zusammen und übrig bleibt eine bleierne, graue Angst.

„Ich habe mich extra in diese Baracke eingemietet“, begann Tante Nina, „weil sie direkt dem Lager gegenüber liegt ...“

„Nicht die beste Aussicht“, wollte ich gerade noch sagen, doch etwas in der sonderbaren Art der Frau hielt mich zurück. Ich fürchtete, sie werde es sich anders überlegen und mit ihrer Erzählung aufhören.

Tante Nina wischte sich mit dem Handrücken die Tränen von den Wangen und setzte fort: „Ganz wenige hier im Ort wissen, dass da, hinter dem Stacheldraht, mein Mann ein elendes Dasein fristet und dass wir uns nur von weitem sehen dürfen.“

Das war ein Ding! Tante Nina verheiratet?! Und dazu noch mit einem Häftling?

Diese Neuigkeit musste verkraftet werden. Denn trotz unseres Status als Sondersiedler, eine Art „bessere“ Sträflinge, war mein Verhältnis zu den Insassen des Lagers gespalten; einerseits waren sie, genau wie wir, „deklassierte Elemente“, Außenseiter der Gesellschaft, andererseits galten sie als Schwerverbrecher, die, nach offizieller Lesart, einer gerechten Strafe nicht entgehen durften. Die stets Wiederkehrende Floskel “bei uns werden Unschuldige nicht eingelocht“ und die tägliche Propaganda über die gefährlichen Vaterlandsverräter und Staatsfeinde taten das Übrige, und ich kam bei meinen Überlegungen immer wieder ins Schleudern, geriet sozusagen vom Regen in die Traufe. Eddie ärgerte sich über den „Salat“ in meinem Kopf, aber trotz meiner Einsicht blieb vieles darin haften – die Außenwelt gewann allmählich die Oberhand über die familiäre Erziehung. Wie konnte es auch anders sein, wenn ich im Grunde genommen nur zum Schlafen nach Hause kam?

„... Krummholznadeln gesammelt“, drang plötzlich Tante Ninas Stimme zu mir durch. „Es hieß, daraus lasse sich wirksame Medizin gegen Skorbut herstellen; also trieb man unsere Kolonne aus dem Frauenlager in die Berge, wo es genug Krummholz gab. Für uns war es eine glückliche Fügung, denn gerade zu dieser Zeit waren die Blaubeeren und Preiselbeeren herangereift, und wir konnten, trotz der strengen Bewachung, immer wieder eine Handvoll Beeren in den Mund stopfen.

Am zweiten Tag zog eine zweite Kolonne an uns vorbei – aus einem Männerlager. Das hättest du sehen sollen! Wie aufgeregt alle waren! Wir hatten jahrelang keinen Mann gesehen, und die keine Frau.

Die Posten wurden unruhig, schossen in die Luft, als sich beide Kolonnen nähern wollten. Dann trieben sie die Männer weiter, zum Berg gegenüber, wo die Häftlinge ihre Arbeit aufnahmen.

Doch in den wenigen Minuten, die wir uns gegenüberstanden, war ’s um mich geschehen. Ein gut gebauter großer netter Bursche lächelte mich fröhlich an, als wäre ich eine alte Bekannte. Die Welt um mich herum versank, ich sah nur ihn und seine lächelnden Augen. Dann plötzlich riefen wir einander wie auf Kommando unsere Namen zu, ich hörte nur: ‚Oleg Serow, Lager NN bei Palatka! Merk’ dir das!’ Ein Schlag mit dem Gewehrkolben mitten ins Gesicht ließ ihn verstummen. Dann waren sie alle weg. Ich konnte mich nicht rühren und hatte nur einen Wunsch – sterben! Sterben hier, sofort, auf der Stelle, nicht mehr da sein. Mein Gott, es tat ja so weh, denn ich wusste, wir würden uns nie, nie mehr wieder sehen.“

Plötzlich hielt Tante Nina inne, sah mich groß an: „Warum erzähl’ ich dir das eigentlich alles? Du wirst es doch nicht verstehen können“, meinte sie müde, als sie meine abwehrende Geste sah.

Ich konnte in der Tat mit derlei Erfahrungen nicht aufwarten, aber ich hatte schon unzählige Bücher über die Liebe gelesen.

Mein Einwand zauberte ein schwaches Lächeln auf Tante Ninas Gesicht: „Ja, ja, die Liebe in den Büchern, die Romantik ... Liebe im Leben ist oft ganz anders, sie kann sehr grausam, schmerzlich und …“, flüsterte sie jetzt nur noch, „sie kann auch sehr schmutzig sein!“

Dann fuhr sie in ihrer Geschichte fort: „Am nächsten Tag waren die Posten schlauer: sie machten einen Bogen um das Areal, auf dem die Frauen arbeiteten, dann aber hielt die Kolonne doch noch ziemlich nahe bei uns an.

Es war Mittag, als ich mich auf der Suche nach saftig grünen Zweigen etwas weiter ins Dickicht gewagt hatte –.“ Tante Nina brach ihre Erzählung jäh ab, lächelte verklärt und glückselig und schien mich ganz vergessen zu haben. Man sah, sie war weit, weit weg in ihren Gedanken, vielleicht in jenen herrlichen Sommertagen beim Krummholzsammeln, wer weiß. Dann schüttelte sie den Kopf, als wollte sie die Erinnerung loswerden, und sah mich erstaunt an, als sähe sie mich heute zum ersten Mal.

„Ach ja, dann hörte ich irgendwann jemand meinen Namen rufen, leise und eindringlich, fast flüsternd. Ich dachte, ich hätte mich verhört. Aber nein, jemand rief wiederholt nach mir, und als ich dann nachschaute, sah ich Oleg hinter einem kleinen Hügel unter den Ästen eines Krummholzbäumchen kauern und verzweifelte Versuche unternehmen, mich auf sich aufmerksam zu machen. Meine Knie wurden weich, sag’ ich dir, ich konnte mich nicht vom Fleck rühren und die paar Schritte zu ihm gehen. Oleg flehte mich an, ich solle mich beeilen, dann spürte ich nur noch seine heißen Lippen auf meinem Mund und vergaß die ganze Welt, diese beschissene, grausame Welt ... Als ich dann einigermaßen zu mir kam und schwache Versuche machte, seine hartnäckigen Liebkosungen abzuwehren, flüsterte er: ‚Wir haben keine Zeit, versteh’ doch, vielleicht werden wir nicht noch einmal solch eine Gelegenheit haben, zusammen zu sein.’

Ich dachte, ich sterbe vor Glück, ersticke von seinen heißen Küssen, zergehe unter seinen eiligen Liebkosungen, ich glaube, ich habe zum ersten Mal im Leben unendliches Glück verspürt.

Jeden Abend, bevor man uns in die Baracken trieb, nahmen wir für immer Abschied voneinander, doch uns waren noch ganze fünf Tage bitteren Glücks beschieden, fünf Tage ‚Flitterwochen’ in der Taiga, unter dem blauen Firmament und den Strahlen der kalten, gleichgültigen nördlichen Sonne. Jedes mal, wenn wir uns hastig verabschiedeten, flüsterte er wie besessen: ‚Du bist meine Frau vor Gott und der Welt! Uns hat das Schicksal zusammengeführt und getraut, vergiss das nicht, meine Einzige, meine Geliebte! Und sollten wir uns nie wiedersehen, bin ich dennoch dem Schicksal unendlich dankbar für dieses göttliche Geschenk.’

Dann kam das Aus, und ich habe bis zu meiner Entlassung nie wieder etwas von Oleg gehört. Als ‚freie Bürgerin mit begrenzten Rechten’ begann ich dann mit der Suche und fand ihn hier, im Lager von Arkagala“, schlug Tante Nina die Hände vors Gesicht und sank auf dem Sofa zusammen.

Ich war erschüttert. So etwas kam in der Tat nicht in meinen Büchern vor, und nun wusste ich nicht, was ich tun sollte. Ich hätte Tante Nina ja so gerne getröstet, aber sicherlich hätte ich nicht die richtigen Worte gefunden. Und was sagte man in solchen Fällen überhaupt?

Es wurde ganz still in der Stube, und plötzlich sagte Tante Nina ganz ruhig und gefasst in diese Stille: „Weißt du was, Mädchen? Ich zeig’ die meinen Oleg. Morgen passen wir die Kolonne auf dem Heimweg ab, mit etwas Glück kriegen wir ’s hin.“

„Na, du Luder, willst dir wieder mal deinen Bräutigam ansehen?“, rief ihr einer der Soldaten zu, als wir uns am nächsten Tag am Straßenrand aufbauten und die graue Masse der Häftlinge heranwälzte. „Nun, da ist er, dein Schönling“, zeigte der Wachmann auf eine jämmerliche Gestalt in zerlumpter Joppe, die nur deshalb nicht auseinander fiel, weil sie mit einer Leine am Körper zugeschnürt war. Das vor Schmutz starrende Hemd hatte keine Knöpfe und gab den bis auf die Knochen abgemagerten Körper mit tiefen, blutigen Kratzwunden frei – Spuren von hunderten von Läusen- und Wanzenbissen.

Als wäre es nicht genug zum Verzweifeln, winkte Oleg uns zu und versuchte zu lächeln. Es war, als wollte sich ein Totenkopf mit tief eingefallenen Wangen und überdimensionalen Augenhöhlen optimistisch geben. Dann winkte er resigniert ab, rief Tante Nina noch etwas aus seinem zahnlosen Mund zu und schlurfte mit der Kolonne dem Lagertor zu, auf dem in großen Lettern stand: „Arbeit ist Ehrensache, Heldenmut und Heldentat.“

Die Soldaten rissen dreckige Witze, Tante Nina weinte haltlos, und ich stand hilflos da und konnte keinen der Beteiligten verstehen.

 

Politisch von der Wiege bis zur Bahre

„Achtung, an alle! Morgen haben wir nach der fünften Stunde eine Komsomolversammlung!“ Ella hat ein schwaches Stimmchen und kommt gegen den Lärm in der Klasse nicht an. Sie ist gereizt und pickt sich aus dem wilden Strom der aufbrechenden Schüler als Blitzableiter – mich heraus: „Emmiiii! Du brauchst gewiss wieder mal ’ne extra Einladung, nicht wahr?“

Ich habe nicht zugehört und bin nicht ganz bei der Sache: „Einladung? Wohin denn?“

„Zur Komsomolversammlung, morgen, wohin denn sonst!“

„Bin doch gar keine Komsomolzin, wann merkst du dir das endlich?“

Ellas süßes Gesichtlein verzieht sich verärgert: „Ach so. Ja, dann … Apropos, in unserer Klasse sind alle Komsomolzen, nur du nicht. Kannst du mir sagen, warum?“

„Kann ich, will aber nicht.“ Ich möchte in Ruhe gelassen werden und wende mich trotzig meinen Büchern zu. Ella lässt nicht locker, redet und leiert Parolen herunter, eine nach der anderen. Unsere Klassenkameraden haben es plötzlich nicht mehr so eilig wegzukommen, werden auf das Geplänkel aufmerksam.

Plötzlich werde ich hellwach: „... musst wissen, dass du dadurch die ganze Klasse in eine unangenehme Lage bringst. Deine Sturheit beschert uns ziemlich viele Minuspunkte im Wettkampf mit der 9B!“

Also bin ich wieder mal dran, muss Rede und Antwort stehen, warum ich nicht unter den „jungen Erbauern des Kommunismus“ bin und auch nicht die Absicht habe, mich ihnen anzuschließen. Diese Verhöre wiederholen sich in fast regelmäßigen Abständen, doch mein Entschluss steht fest: Nie im Leben kriegen sie mich dahin! Und wenn sie sich alle samt dem Lehrerkollegium auf den Kopf stellen!

Dieses süße, zarte Mädchen da vorne, das hurrapatriotische Reden schwingt und ehrlich entrüstet ist über mich, weil ich es wage, das Heiligtum abzulehnen, was weiß es über die anderen Seiten des Lebens, wo die Sonne nicht so oft hin scheint? Bei der feierlichen Zeremonie der Aufnahme in den Komsomol hat man sie ganz bestimmt nicht so angebrüllt, wie mich, als ich vor vier Jahren, im naiven Glauben, ich wäre ein Mensch wie alle anderen, dem Komsomol beitreten wollte.

Ich habe immer noch das hassverzerrte Gesicht des Sekretärs des Rayonkomitees vor Augen und sein Faschisten- und Fritzengebrüll in den Ohren. Nein, dieser Tobsuchtsanfall reicht mir für mein ganzes Leben, ein zweites Mal passiert mir so etwas nicht. Niemals! Das habe ich mir damals geschworen und dabei bleibt es.

Ella lässt auch nicht locker, die Ehre der Komsomol-Organisation unserer Schule stehe auf dem Spiel.

„Ich werde das noch heute mit Lydia Iwanowna besprechen“, droht sie und bringt damit den Stein ins Rollen.

Dass das Leben keine ebenmäßige Strasse ist, über die man leichtfüßig und immer unbeschwert und glücklich marschiert, hatte ich längst begriffen. Und ich fand es sogar in Ordnung, solange dieser Marsch nicht über meine Kräfte ging. Nur wenn das Glück sich aus dem Staub machte und die Unglücksträhnen nicht aufhören wollten, konnte es recht unangenehm werden. Wie jetzt zum Beispiel. Denn im Moment habe ich nur Pech: Ella mit ihrem Komsomol-Gequatsche und Drohungen, Sascha, der mir nicht aus dem Kopf geht, und neuerdings hat man sich mal wieder daran erinnert, dass ich keine Russin bin …

Es war in der großen Pause. Ich hatte gerade mein Brot herausgeholt, auf das Mama noch schnell etwas Schmalz geschmiert hatte, denn die Butter, die man vom „Kontinent“ einführen musste, war viel zu teuer für uns. Es machte mir nichts aus, das Schmalzbrot schmeckte mir sogar, nur war die Stulle unterwegs durch und durch gefroren, und ich musste sie während des Unterrichts auf dem Heizkörper auftauen lassen.

„Mein Gott, wie kann man nur so was essen?!“, schreit Vera angeekelt beim Anblick meiner Stulle auf. Ich habe beinahe mein Brot fallen lassen und sehe entgeistert in ihr Gesicht mit der gerümpften Nase.

„Das haben die doch im Blut, weißte nicht?“, lacht Wowka Asarow lauthals über seinen Witz und sieht sich siegessicher in der Runde um. Die Anspielung verstehen alle. In den vielzähligen Kriegsfilmen, in denen die deutschen Soldaten mordend und raubend durch die russischen Dörfer ziehen, fragen sie, bevor sie die Einwohner plündern, immer wieder: „Matka – salo, matka – jaika, matka – kurka?“ („Muttchen – Speck, Muttchen – Eier, Muttchen – Hühnchen?“)

Dem betretenen Schweigen folgt atemlose Stille, in die Sascha nach einer Ewigkeit bedrohlich leise sagt: „Lass’ uns nach draußen gehen, du Abschaum!“ Er ist blass vor Wut, kann sich kaum noch beherrschen.

Ich schaue geradeaus auf mein Schreibpult, meine Augen brennen, der Kopf dröhnt, und ich bete zu Gott, dass ich nicht in Tränen ausbreche.

Wieder mal fühle ich eine Schuld auf mir lasten, die mich zu erdrücken droht, eine fremde Schuld, die ich sühnen muss, eine Schuld, deren Ursprung und Wurzeln ich nicht einmal richtig verstehen kann.

Und wie immer in solchen Situationen, erwartet man von mir das Bekenntnis zu dieser Schuld – mea culpa ...

In den wenigen Minuten ist zwischen meinen Freunden und mir eine Wand gewachsen, die weniger von ihnen als von mir hochgezogen wird.

Und nichts kann daran die „Predigt“ unserer Aktivistin Rita ändern, die aufs hohe Ross steigt und vom proletarischen Internationalismus redet und davon, dass Kinder nicht für die Taten ihrer Eltern verantwortlich sind (?!), dass es ja auch „gute“ Deutsche gibt – hier müssen traditionell Karl Marx und Friedrich Engels herhalten – neuerdings hat sich ihnen G. E. Lessing beigesellt, weil wir ihn gerade im Deutschunterricht durchnehmen.

Dann wird sie etwas unsicher und fügt zögernd hinzu: „Wenn auch nicht viele.“

„O, doch, und sehr, sehr viele!“, würge ich aus mir heraus und gehe in die Offensive. Jetzt sind sie alle meine Feinde, ich kann nicht mehr zwischen Gut und Böse unterscheiden, werde ungerecht, hasse alle, bin ohnmächtig in meinem Hass und schreie meine „Wahrheiten“ in den Klassenraum: von den Lügen in den Filmen und Büchern, von den anständigen deutschen Soldaten, vom russischen Pack – alles Dinge, die ich gar nicht so meine, sondern blind vor hilfloser Wut und sturem Trotz von mir gebe.

Dann komme ich zu mir, halte erschrocken inne und renne weg.

Ob man mit solcherart Zwischenfällen hätte fertig werden können, sie einfach hinnehmen und nicht beachten? Wahrscheinlich war es machbar, aber da war die Flut von Kriegsfilmen und Kriegsliteratur, die immer wieder die Narben aufriss und den Feind in Erinnerung brachte, den lodernden Hass gegen alles Deutsche, also auch gegen uns, aufbauschte und neu entfachte.

Ich war begeisterte Kinogängerin, doch jeder Kinobesuch war eine Folter für mich. Die Filme verfehlten auch bei mir nicht ihre Wirkung, und mit der Zeit ertappte ich mich oft dabei, dass auch ich die „Fritzen“ und „Faschisten“ hasste, aber aus einem anderen Grund, dem nämlich, weil sie mir das Leben so schwer machten.

Andererseits fühlte ich mich mit den Deutschen aufs Engste verbunden und glaubte mich dazu verpflichtet, auf ihrer Seite zu stehen, denn schließlich gehörten wir – meine Mutter, meine Familie, unsere Verwandten – irgendwie dazu.

Die ungeheure Schuld unserer Stammesgenossen war eine schwere Last, die wir immerzu abzuwerfen versuchten. Doch wir sind sie nie wieder losgeworden, auch das nachsichtige „großzügige Verzeihen“ nicht: „Na ja, waren ja nicht alle so schlimm, es gab auch Ausnahmen.“

Damit waren dann die Anwesenden gemeint. Und für diese nachsichtige Bestätigung musste man auch noch dankbar sein.

Diese Ungerechtigkeit und unser Unvermögen, dagegen anzukommen und etwas zu ändern, nisteten sich tief in unseren Seelen ein, verkrüppelten sie und töteten das aufkommende Gefühl, wie alle anderen sein zu dürfen. Denn immer wieder kam man an einen Punkt, wo man uns zu verstehen gab: Du bist anders und nimmst eine Sonderstellung in der Gesellschaft ein, ob du willst oder nicht.

Der Makel blieb fest an uns kleben. Dagegen anzukommen war schwer, besonders schwer, wenn man allein gegen alle stand

 

Wehmut und Schmerz

„O, mein Gott! Ich sehe nichts! Ich sehe absolut gar nichts!“

Der verzweifelte Aufschrei von Ella weckt in der Morgenfrüh’ die Mädchenmannschaft, die seit zwei Tagen in einem Camp bei Magadan „Die Ehre unserer Schule“, wie es heißt, im Skiwettkampf verteidigt.

Wir springen aus den Betten und merken vor Schreck weder die schaurige Kälte im Raum, noch den eisig kalten Boden, über den wir barfuss zu Ellas Bett laufen.

„Was hast du denn, Ella?! Was heißt, du kannst nichts sehen?“ Die Sportlehrerin, die uns hier betreut, gerät in Panik, während Ella nicht aufhört, hysterisch zu schreien.

Wir sind geschockt: Ella scheint in der Tat ihr Augenlicht verloren zu haben, denn sie ist aufgesprungen, fuchtelt wild mit den Armen, tappt unsicher durch den Raum, die Augen weit aufgerissen, und schreit verzweifelt um Hilfe.

Uns packt das Grauen; doch der herbeigerufene Arzt nimmt das Ganze nicht so ernst: „Es ist nichts Schlimmes, auf jeden Fall wird eure Kameradin bald wieder sehen können, genau so gut, wie früher. Hier haben wir es mit der Schneeblindheit zu tun. Die Sonne scheint jetzt im Frühling viel intensiver …“

Trotz der Angst, die uns immer noch im Nacken sitzt, prusten wir los. Von wegen Frühling! Gestern sind uns fast die Hände in den Handschuhen abgefroren!

Der Arzt lässt sich nicht beirren: „Nach dem Kalender ist jetzt Frühling und basta! Tja, und die Reflexion vom Schnee ist nun sehr stark, viel stärker als im Winter, so dass die Gefahr, zeitweilig zu erblinden, sehr groß ist. Und ihr seid ja den ganzen lieben Tag auf der Piste, da nimmt es mich nicht Wunder, dass das Mädchen hier davon betroffen ist. Ich wundere mich nur, dass es bis jetzt nur ein Einzelfall ist, denn in der Regel sollte man sich in dieser Zeit ohne Sonnenbrille nicht hinauswagen …“.

Wir müssen wieder lachen: Sonnenbrillen? So etwas gibt es ja nur in Filmen!

Die Schneeblindheit entsteht in der Regel im April/Mai, wenn die Sonne immer höher steigt. Vom Frühling ist nichts zu merken, außer vielleicht dem Schnee, der in den zaghaften Sonnenstrahlen besonders hell aufblitzt und die Augen blendet. Passt man nicht auf, läuft man Gefahr, Verbrennungen der Hornhaut zu erleiden und vorübergehend zu erblinden. Die fehlenden Vitamine und Nährstoffe verschlimmern die Situation; so mancher hat hier schon sein Augenlicht eingebüßt. In unserer Situation wurde diese Reaktion des Körpers durch den Vitaminmangel verschlimmert.

Hier half wirklich nichts, außer einer dunklen Brille, aber wo sollten wir die hernehmen?

Also mussten wir so gut es ging selber auf uns aufpassen, und das hieß, den Rat des Arztes befolgen, der meinte, wir sollten, wenn es irgendwie geht, uns weniger draußen aufhalten und den direkten Anblick des Schnees meiden.

Eine schwere Aufgabe, wenn es draußen nichts anderes gab als Schnee, blau-weißen Schnee, der in der Sonne, die jetzt, im Mai, immer länger am Himmel verweilte und auch schon ein bisschen wärmte, nicht glitzerte, sondern in allen Regenbogenfarben funkelte, ja regelrecht Funken sprühte. Der Arzt hatte schon recht, aber so ganz wollte keiner von uns seine Ratschläge befolgen, denn jetzt brach endlich die Zeit an, wo die leidenschaftlichen Skiläufer wieder mal die Bretter anschnallen und sich auf den Pisten austoben konnten, ohne sich Hände, Füße oder Nase abzufrieren. Das Wichtigste war aber das Training für den Wettbewerb, der alljährlich im Sportlager bei Magadan zu dieser Zeit veranstaltet wurde.

Sämtliche Schulen im ganzen Gebiet führten Auswahlwettspiele durch und bildeten Mannschaften, die dann die jeweilige Schule im Gebietswettkampf vertraten.

 

Die Mannschaft unserer Schule, fünf Mädchen und sieben Jungen, hatten bis jetzt ganz gut abgeschnitten, wir rechneten uns sogar große Chancen auf den Sieg aus – doch nun diese Geschichte mit Ella, die eine der stärksten Skiläuferinnen war!

Aber es kam noch schlimmer. Die Jungen erwiesen sich als viel anfälliger für die Sonnenblindheit, denn am nächsten Tag meldete man aus der „Jungenbaracke“ drei neue Fälle. Einer davon war Sascha.

Seit dem Zwischenfall in der Schule, als er Wowka Asarow meinetwegen zur Rede gestellt hat, habe ich meine sture Haltung aufgegeben und bin friedlicher geworden. Wir gehen jetzt immer zusammen vom Bus nach Hause. Sascha trägt meine Schultasche, reißt Witze, wir lachen, alberten rum, sind ausgelassen und ohne bestimmten Grund fröhlich. Nur wenn Sascha ernst wird und, ohne ein Wort zu sagen, mir lange in die Augen sieht, kann ich diesem fragenden Blick nicht standhalten, weiche ihm aus, werde unsicher. Dann schweigen wir eine Zeit lang, wissen nicht, wohin mit den Blicken, finden nicht aus der Verlegenheit heraus. Es ist wie ein Zauber, den man abschütteln möchte und gleichzeitig bereut, wenn er vorbei wäre. In dem Wirrwarr der Gefühle finde ich mich schon längst nicht mehr zurecht, denn es gibt tausend Fragen, auf die ich keine Antwort weiß, am allerwenigsten auf die Frage, was mit mir los sei. Ich bin verunsichert. Manchmal beschleicht mich ein Angstgefühl, und ich beschließe, mich von Sascha fernzuhalten.

Aber da war noch etwas anderes, das stärker ist als ich. Und wenn ich ehrlich bin, möchte ich weder dieses Gefühl noch die Nähe zu Sascha missen. Ihm scheint es genau so zu gehen.

„Ist er vielleicht der Prinz?“ Ich wage nicht, daran zu denken, hätte aber, so glaube ich, nichts dagegen.

In der Klasse, die von unserer gegenseitigen Abneigung wusste, bleibt diese Veränderung nicht unbemerkt, und man hält sich mit spitzen Bemerkungen nicht zurück, was mich noch mehr in Verlegenheit bringt und furchtbar ärgert, obschon es nicht böse gemeint ist.

Als wir ins Zimmer der Sanitätsstelle stürmen, worin der erblindete Sascha untergebracht ist, verrate ich mich beinahe vollends. Erschüttet stehe ich vor seinem Bett und kann kein Wort hervorbringen – Gott sei Dank schnattern die anderen Mädchen wie ein Gänseschwarm.

Ich merke gar nicht, wie sie sich alle wegschleichen und es ganz still im Zimmer wird.

„Emmi!“ Ich zucke zusammen, als Sascha mit schwacher Stimme nach mir ruft. „Emmi, bist du noch da?“

Ich nicke, besinne mich aber, dass er mich nicht sehen kann, und antworte leise: „Ja, Sascha.“

„Ich werde dich vielleicht nie mehr sehen können! Das ist eine Katastrophe!“, stöhnt er. „Es ist zum Verzweifeln! Nie mehr in deine grünen Katzenaugen sehen!“

Etwas in seiner Stimme lässt mich aufhorchen. Klang da eben nicht ein ganz leiser, lustiger Unterton mit? Ich witterte eine Falle und winke ganz plötzlich mit der Hand vor seinen Augen. Er zuckt zusammen. Hab’ ich doch geahnt!

„Du – du bist ja gar nicht blind, du hast – du hast uns alle belogen!“, beginne ich vor lauter Aufregung und Empörung zu stottern.

„Na ja“, gibt Sascha freimütig zu „es war ein kleiner Scherz und ein Trick zugleich: Ich wollte dich unbedingt sehen, und eine andere Möglichkeit gab es hier einfach nicht!“

Sascha ergreift meine Hand, setzt sich mit einem Ruck auf und beginnt hastig zu flüstern: „Ich weiß nicht, was mit mir los ist, Emmi, aber ich kann einfach ohne dich nicht mehr –“, Sascha macht eine Pause, als suchte er das richtige Wort, „ ja, genau, ich kann ohne dich einfach nicht mehr atmen. Ohne dich ist alles nur öde.“

Sascha Stimme klingt belegt, hört sich heiser an, doch er spricht und stottert, stottert und spricht weiter, ungelenk, verwirrt, holprig: „Was meinst du?“, hält Sascha plötzlich inne und schaut mich fragend an. „Ist das Liebe?“

Er wartet meine Antwort erst gar nicht ab: „Es ist Liebe, ich weiß genau, etwas anderes kann es gar nicht sein. Ich liebe dich, liebe dich vom ersten Augenblick an, als dich gesehen habe! Ja, ja ich ahnte es schon damals!“

Sascha spricht weiter, aber ich höre nichts, sehe nur, dass er seine Lippen bewegt. Mein Herz pocht ganz oben im Hals, ich kann vor Aufregung kaum noch atmen.

Plötzlich hört Sascha auf zu sprechen und sieht mir forschend in die Augen. Das Schweigen wird peinlich, doch ich kann vor Bestürzung kein Wort über die Lippen bringen. Und dann – was sagt man, bitteschön, in solchen Fällen?

Plötzlich steht Sascha auf, nimmt mein Gesicht in beide Hände und drückt mir einen zärtlichen Kuss auf den Mund.

Das ist entschieden zu viel, finde ich. Mit glühenden Wangen stürze ich aus dem Zimmer und flüchte in unsere Baracke.

Das Quartett in unserem Zimmer zeigt sich bei meinem Anblick bestürzt: „Was ist denn passiert? Du siehst schlimm aus!“

„Nichts, lasst mich bitte in Ruhe!“

Allmählich verstehen meine Klassenkameradinnen, dass mir unterwegs kein Bösewicht nachgejagt ist, und werden neugierig: „Sascha? Was hat er wieder angestellt?“

„Er hat ihr ganz bestimmt seine Liebe gestanden“, vermutet Tanja lachend.

„Hört auf, ihr blöden Gänse!“, schreie ich vor Wut und Hilflosigkeit.

„Ist doch ein offenes Geheimnis. Die ganze Schule weiß Bescheid“, lässt sie nicht locker.

„Weiß Bescheid? Worüber?“

„Dass ihr ein Paar seid …“

„Ihr seid wahnsinnig, ihr gehört ins Irrenhaus, ihr Idiotinnen!“, gerate ich immer mehr in Rage, fühle mich in die Enge getrieben.

„Reg’ dich doch ab, Emmi“, wedelt die rothaarige Katja mit den rehbraunen Augen und den schönsten Beinen in der ganzen Schule plötzlich mit einem Zettel vor meinen Augen und reicht ihn mir dann mit den Worten: „Für dich, Prinzessin, von Sascha. Hat man mir schon heute Morgen zugesteckt, habe in der Aufregung vergessen, ihn dir zu geben. Leider war das Briefchen geöffnet, da haben einige den Inhalt mitgekriegt.“

„Prinzessin, das Leben ist so trübe und trostlos ohne dich! Wann könnten wir uns treffen?“, lese ich und breche in Tränen aus, in zornige, hilflose Tränen. Dieser Idiot, warum hat er das getan?

„Hör’ auf zu flennen, Emmi, ihr seid eben Romeo und Julia in unserer Schule. Was ist schon schlimm dabei, dass ihr verliebt seid? Man bewundert sogar eure Liebe!“

„Ich persönlich“, meint Katja, „würde mir deinen Sascha auf der Stelle schnappen, leider aber bist du die Auserwählte. Hast eben Glück gehabt. Wie nennt er dich noch? Ach ja, Prinzessin!“

„Die ganze Schule weiß Bescheid …“, hämmert es in meinem Kopf. Das Ausmaß der Katastrophe wird mir erst jetzt bewusst. Mir graut davor, was Mama, die Lehrer, was Lydia Iwanowna dazu sagen, wenn sie davon erfahren.

Die Freude über den Wettbewerb, der sich so gut anließ, ist mir vergällt. Hin- und hergerissen zwischen der Zuneigung zu Sascha und der Angst vor Tratsch und Klatsch, kann ich mich nicht einmal so richtig über den zweiten Platz im Gebietswettbewerb freuen.

Ich gehe Sascha nun aus dem Weg, wo ich nur kann. Auf dem Rückweg setze ich mich absichtlich zu Ella und vermeide es, in die Richtung zu schauen, wo Sascha mit den Jungen Platz genommen hat.

Aber ich weiß, dass er traurig ist – ich nicht weniger.

 

Mamas Entschluss

Lydia Iwanowna findet, ich sei begabt, hätte sogar Talent zum Schreiben. Mir ist es bald peinlich, wenn sie fast in jeder Literaturstunde meinen Aufsatz vorliest und mich als leuchtendes Beispiel hinstellt.

Aber auch sonst nimmt sie Anteil an allem, was mich anbetrifft, nicht nur in den schulischen Angelegenheiten. Diese Zuneigung tut mir gut, ich vergöttere die Schuldirektorin und liebe die Fächer Russisch und Literatur, die sie unterrichtet, über alles. Sie ist auch fest davon überzeugt, dass ich unbedingt studieren muss, selbstverständlich unbedingt Journalistik.

Davon kann Lydia Iwanowna niemand abbringen, am wenigsten Eddie, der nicht nur einmal versucht hat, meiner Lehrerin klar zu machen, dass dies in unserer Situation einfach unmöglich ist. Denn wir sind, trotz der Umwälzungen nach Stalins Tod, in der UdSSR nach wie vor rechtlose Sondersiedler, und es gibt keine Anzeichen, dass sich unser Status in der nächsten Zukunft ändern wird. Außerdem kostet ein Studium Geld, viel Geld, das wir nicht haben und nie haben werden.

Dennoch spricht Lydia Iwanowna so oft und so begeistert von diesen Plänen, dass auch ich davon angesteckt werde, immer wieder zu Hause davon erzähle und ins Schwärmen gerate. Eddie ist dann zerknirscht und schlecht gelaunt, Mama aber bekommt glänzende Augen.

Das Studium war auch der Grund, der Lydia Iwanowna veranlasste, meine Mutter zu einem Gespräch in die Schule zu bestellen und sie für ihren Plan zu gewinnen.

Mama hatte grundsätzlich nichts gegen ein Studium, sah sie doch auf diese Weise eine Möglichkeit, das Vermächtnis meines Vaters zu erfüllen. Es haperte, wie sie meinte, nur an einem: dieser Traum war nicht zu finanzieren.

Lydia Iwanowna schien sich zu diesem Gespräch, zu dem ich dazugeholt wurde, gut vorbereitet zu haben. Immer wieder, wenn sie auf die finanzielle Seite zu sprechen kamen, versuchte sie, die Frage als unwesentlich abzutun und davon abzulenken, bis Mama dann geradeheraus und ohne Umschweife unsere Situation schilderte.

Im Direktorenzimmer herrschte einige Minuten bedrückende Stille.

„Es gibt einen Ausweg“, begann die Schuldirektorin nach langem Schweigen vorsichtig und wich unseren Blicken aus. „Man könnte auf einen Schlag beide Probleme lösen, das materielle und das rechtliche sozusagen. Aber da müssen Sie“, wandte sie sich an meine Mutter, „auch zu Konzessionen bereit sein …“

Mama sah die Lehrerin hoffnungsvoll an, verstand aber nicht ganz den Sinn ihrer Worte. Selbstverständlich war sie bereit, alles in ihren Kräften stehende zu tun, um ihrem Nesthäkchen möglichst viele Türen zu öffnen. Sie würde ihrem Kind doch keine Steine in den Weg legen!

Lydia Iwanowna meinte, am wichtigsten sei, dass ich dem Komsomol beitrete. Meinen entsetzten Aufschrei überhörte sie einfach. Es lasse sich einrichten, dass sich die Horrorgeschichte von früher nicht wiederhole (woher wusste sie eigentlich davon?), sie werde schon dafür sorgen. Man könne es auch arrangieren, dass ich einen „sauberen“ Personalausweis bekomme, meinte sie.

Hier machte sie eine Pause und sah meine Mutter prüfend an.

Mama verstand offensichtlich nicht, worauf die Lehrerin hinaus wollte, war aber gerne bereit, zu glauben, dass es wirklich eine Möglichkeit gab.

Lydia Iwanowna zögerte noch einige Minuten, ehe sie dann mit ihrem Vorschlag herausrückte: „Ich dachte an eine Adoption …“

Mama und ich, wir beide verstanden nicht sofort, was gemeint war. Dann sah ich das Entsetzen in Mamas Gesicht und begriff den Sinn des Wortes, das noch immer im Raum zu schallen schien: „A-dop-tiooooon.“

Mama bricht in Tränen aus, bleibt jedoch höflich, bedankt sich, geht aber auf keines der vielen Argumente der Schuldirektorin ein: „Das schlagen Sie sich bitte aus dem Kopf. Sie ist mein Kind und bleibt es. Bitte, ich will nicht undankbar sein – ich weiß Ihre Mühe zu schätzen, aber Emmi wird auch als deutsches Mädchen mit ihrem richtigen Namen ihren Weg machen – so Gott will.“

Ich halte zu meiner Mutter, obwohl es mir schwer fällt, meinen Traum endgültig aufzugeben.

Die Diskussionen über meine Zukunft hören endlich auf, und in unserem Heim kehrt Ruhe ein. Wir haben resigniert.

Dann platzte die Bombe.

Eines Abends, als wir uns alle am Tisch zum Abendbrot eingefunden hatten, meinte Mama beim Brotaufschneiden ganz beiläufig: „Was ich euch schon lange sagen wollte: Ich werde bald heiraten“, und hantierte mit dem Messer scheinbar ruhig weiter, als wäre die Nachricht, die sie eben verkündet hatte, das Selbstverständlichste auf der Welt.

Das Geklapper am Tisch hörte abrupt auf, es wurde so still in der Stube, dass man den Flug eine Fliege hätte hören können, wenn es sie zu dieser Jahreszeit hier gäbe. Eddie, seine Frau Lena und ich sahen Mama entsetzt an: Wir konnten den Sinn ihrer Worte einfach nicht begreifen, wollten sie nicht wahrnehmen, ja glaubten uns verhört zu haben: Mama und heiraten? Was für ein Blödsinn!

Allmählich aber begannen wir zu verstehen; doch die Nachricht war so ungeheuerlich, dass keiner von uns wagte, nachzufragen. Wir blieben schweigend sitzen und starrten Mama ungläubig an, unfähig ein Wort zu sagen.

„Ich habe es mir gut überlegt“, meinte Mama seelenruhig, aber fest, als Eddie zum Sprechen ansetzte. „Versucht bitte nicht, mich umzustimmen. Mein Entschluss steht fest. So ist es besser für euch“, wandte sie sich an Eddie und Lena, „und für mich und Emmi.“

Mehr sagte sie nicht an diesem Abend, und all unsere „Warums“ und „Wiesos“ blieben ohne Antwort.

Ich fühlte mich miserabel, denn wenn jemand Schuld an allem hatte, dann war ich es. Ich war felsenfest davon überzeugt, dass Mama diesen Schritt meinetwegen gewagt hatte. Ich sollte die Möglichkeit bekommen, nach dem Abitur ein Studium aufzunehmen. Aber auch Eddie und seine Familie sollten von einer schweren Last, die wir für sie waren, befreit werden.

Wir waren so erschüttert von Mamas frevelhafter Absicht, dass zunächst keiner nach dem Mann fragte, den unsere Mutter heiraten wollte.

Dann stellte sie ihn vor. Es war ein zweiter Schlag, weniger für mich, als für Eddie, denn der Mann war Ukrainer, kein Deutscher. Für Eddie war es also ein zweifacher Verrat – an Papa und an unserer Herkunft, obschon er selber auch eine Russin geheiratet hatte. Deutsche gab es in unserer Gegend so gut wie keine, und schon gar keine Frauen, da gab es keine große Wahl, das heißt, überhaupt keine. Und als Mönch wollte Eddie ganz offensichtlich nicht sein Leben zubringen.

Onkel Alex, wie sie ihn in der Siedlung nannten, war ein ruhiger, unscheinbarer, älterer Mann, der nach 10 Jahren Lagerhaft wegen „Hochverrats“ hier als Verbannter lebte und, wie wir, den Ort nicht verlassen durfte.

Sein Schicksal war exemplarisch für die Massenverhaftungen und Massenverurteilungen zu Stalins Zeiten. Als junger Mann wurde er zu Kriegsbeginn in die Rote Armee eingezogen und, weil er im zivilen Leben Schmied war, einer Kavallerieeinheit zugeteilt, in der er weiter der gewohnten Arbeit nachging. Dann geriet er in deutsche Gefangenschaft, wo man ihn auch seinem Beruf entsprechend einsetzte. Nur waren es jetzt deutsche Pferde, denen er Eisen aufschlug, keine sowjetischen, was den Mann übrigens überhaupt nicht störte – aber die sowjetischen Sicherheitsorgane.

Nach Kriegsende begann (in Einvernehmen mit den Alliierten, mit denen ein entsprechendes Abkommen geschlossen wurde), überall in Deutschland, eine regelrechte Jagd auf solche „Kollaborateure“. Und wenn die ehemaligen Kriegsgefangenen aufgespürt wurden, schickte man sie direkt in die vielen Lager des sowjetischen GULag.

Onkel Alex wurde zu 15 Jahren Haft verurteilt, landete im Lager in Arkagala, arbeitete unter Tage in der Kohlengrube, wurde nach zehn Jahren vorzeitig entlassen, mit der Auflage, dieses Gebiet nie mehr verlassen zu dürfen, und arbeitete seitdem als Schmied und Pferdepfleger im Nebenbetrieb der Grube.

Er hatte sich am Rande der Siedlung ein Häuschen gebaut und führte ein Leben als Jungegeselle, denn (und das war auch gang und gäbe in jener Zeit) seine Familie – Frau, Kinder, Eltern und Schwestern – hatte sich von dem „Verräter“ losgesagt, hatte sich von ihm lossagen müssen.

Er galt in der Siedlung als anständiger Mann, aber als Mitglied unserer Familie? Undenkbar!

Doch Mama blieb standhaft, und schon nach zwei Monaten zogen wir in Onkel Alex’ Häuschen ein.

Der Bau verdiente eigentlich nicht einmal das Wort „Häuschen“, denn es war eine Art Laube mit dicken stabilen Wänden, die bis zu den wenigen winzigen Fenstern im Boden versank und sich eng an ähnliche, jedoch ältere und schiefe Gebilde schmiegte, die jahrelang den rauen Bedingungen des hohen Nordens standhalten mussten und deshalb schon stark in Mitleidenschaft gezogen waren. Als suchte sie Schutz vor Eis und Kälte, schmiegte sich die wie eine Kette angelegte Häuserreihe an den Hang eines hohen Berges und schien etwas von oben herab auf den übrigen Teil der Siedlung unten im Tal herabzuschauen.

Es war eng im Häuschen, dafür gab es da aber ganze zwei kleine Zimmer, und eines davon gehörte mir! Mir ganz allein!

Das hatte mich etwas mit Mamas Entschluss versöhnt, doch der bittere Nachgeschmack blieb: Ich gab mir die Schuld, war überzeugt, dass Mama sich für mich geopfert hatte, wähnte sie tief unglücklich und hasste den fremden Mann, der in unser Leben trat, aus tiefstem Herzen.

 

Der Skandal

„Nein, nein und nochmals nein!“ Eddie läuft im Zimmer auf und ab, fuchtelt aufgeregt mit den Armen. „Es gab in unserer Familie keine Komsomolzen, und es wird sie auch nie geben!“ Die letzten Worte schreit er so laut, dass ich zusammenzucke und Mama erschrocken um sich sieht, als könnte uns jemand hören.

Meine schwachen Versuche, zu Wort zu kommen und zu erklären, dass es nicht meine Idee ist, dass Lydia Iwanowna und die Komsomolorganisation der Schule auf meinen Beitritt bestehen, scheitern kläglich. Eddie ist außer sich und lässt nicht mit sich reden, in seinen Augen wäre es eine Schmach für die ganze Familie.

Doch dann bekomme ich Schützenhilfe von unerwarteter Seite. Onkel Alex, der in die Operation „Komsomol“ eingeweiht ist und meinen Beitritt in die Jugendorganisation für richtig, weil nützlich hält, räuspert sich und sagt leise: „Emmi geht nächstes Jahr studieren, und ihr wisst ja selber, dass sie keine Chancen hat, wenn sie keine Komsomolzin ist. Gerade sie“, sagt er mit Nachdruck zum Schluss seines kurzen Plädoyers und hüllt sich wieder in Schweigen.

Die erste „längere“ Rede, die wir von Onkel Alex gehört haben, ist so ungewöhnlich, ja unerwartet, seine Überzeugung so fest, dass wir wie auf Kommando verstummen. Sogar Eddie scheint es vor lauter Verwunderung die Sprache verschlagen zu haben.

Etwas wie Bewunderung regt sich in mir und eine vage Hoffnung keimt auf: Hatte der Mann meiner Mutter da nicht eben wie selbstverständlich gesagt, ich würde studieren?

Ich sehe verstohlen zu Mama hin. Sie hat ganz offensichtlich den Boden vorbereitet und ist nun bereit, die Früchte ihrer Mühe zu ernten. Deshalb also hat sie nichts gegen meine Komsomol-Mitgliedschaft einzuwenden, es ist für sie das kleinere Übel, das in Kauf genommen werden muss.

Mir graut vor der Aufnahmeprozedur, doch Lydia Iwanowna hält Wort und sorgt nicht nur für den reibungslosen Ablauf in der schulischen Versammlung, sondern fährt persönlich mit mir in das Rayonstädtchen, unterhält sich kurz unter vier Augen mit dem verantwortlichen ersten Sekretär und nach wenigen Minuten werde ich in das Sprechzimmer gebeten. Es folgt ein nettes Gespräch, ich beantworte einige Fragen zur internationalen kommunistischen Bewegung und zu den kommunistischen Führern in verschiedenen Ländern, und schon wird mir das Mitgliedsbüchlein ausgehändigt. Keine antideutschen Hasstiraden, kein Faschistengebrüll, keine Fritzenbeschimpfungen – nichts, als wäre ich ein normaler Mensch, ein ganz normaler Mensch, wie alle anderen.

Dann stehe ich draußen vor der Tür, schaue gleichgültig auf das graue Büchlein in meiner Hand und denke zurück an die Zeit, als ich noch im Kostroma-Gebiet den ersten Versuch unternahm, wie alle anderen zu sein, und kläglich scheiterte. Damals sah alles ganz anders aus. Während meine Klassenkameraden den Beweis ihrer Komsomol-Mitgliedschaft glückselig und verzückt an die Brust drückten, wurde ich als „Fritzin und faschistischer Bastard“ schmählich abgewiesen.

Ich höre in mich hinein. Ich verspüre keine Bitterkeit, keinen Hass, aber auch keine Freude, nur eine Leere, eine ungewöhnlich tiefe Leere. Sonst gar nichts.

So wurde auch diese Angelegenheit geregelt, ich dachte überhaupt nicht mehr daran, denn es hatte sich auch gar nichts geändert. Wir lernten, schwänzten, wenn es ging, die Stunden, spielten den Lehrern Streiche, vergnügten und amüsierten uns, wie und wo wir nur konnten.

Mit der Zeit änderten sich auch unsere Vorlieben für Freizeitbeschäftigungen. So gingen wir neuerdings besonders gern zu Klassenfeten, die wir privat der Reihe nach bei jeweils einem unserer Klassenkameraden veranstalteten, unter strenger Aufsicht der Eltern, selbstverständlich, damit ja kein Alkohol, keine Zigaretten oder „noch Schlimmeres“ ins Spiel kommen konnte. Mittelpunkt dieser Feste war stets Sascha, der mit Tanz, Gesang, Witz und anderem Schabernack alle Herzen eroberte.

Es nahte das Neujahrsfest 1955, unser letzter gemeinsamer Jahreswechsel, und dieses Ereignis wollten wir gebührend feiern.

Nach dem Kostümball in der Schule versammelten wir uns abends bei Ella, um, wie es in Russland der Brauch ist, das alte Jahr zu verabschieden und das neue freudig zu empfangen.

Es ließ sich auch alles gut an. Wir scherzten, lachten, tanzten und verfolgten ungeduldig den Zeiger auf der Uhr, der immer näher an die 12 rückte. Warum? Versprachen wir uns vielleicht ein Wunder? Mag sein, ganz bestimmt sogar.

Doch das Wunder, das wir im neuen Jahr erlebten, war ein blaues, ein hässlich blaues; trotz des strengen Verbots unserer Eltern hatten die Jungs irgendwo Wodka aufgetrieben und sich, bevor das neue Jahr im Radio verkündet werden konnte, voll laufen lassen.

Unsere empörten Vorwürfe nahmen sie uns übel, krakeelten eine Zeit lang herum und ließen uns dann einfach sitzen. Wir waren auch froh darüber, denn die Jungs hatten uns die Feier endgültig verdorben. So wünschten wir uns gegenseitig ein frohes neues Jahr und gingen auseinander.

Der Skandal entlud sich am nächsten Tag.

Am frühen Morgen macht sich unser Mathelehrer Pjotr Olegowitsch auf den Weg, um seinen Kollegen ein frohes neues Jahr zu wünschen. Doch bevor er geht, will er seine Grüße und Wünsche an Olga Anatoljewna, die Sportlehrerin loswerden, mit der er und noch eine Kollegin die Wohnung teilen. Olga ist eine angehende Lehrerin, kaum älter als ihre Schüler, und sehr, sehr hübsch. Und es ist ein offenes Geheimnis, dass der Junggeselle Pjotr Olegowitsch bis über beide Ohren in sie verknallt ist.

Also klopft er gut gelaunt an ihre Tür, ruft „Darf ich?“ und streckt, ohne eine Antwort abzuwarten, die Hand mit dem Sektglas durch den Türspalt: „Ein frohes neues –“, weiter kommt er nicht, denn plötzlich hört er Olga im Zimmer erschreckt aufschreien. Als er die Tür aufreißt, um seiner Angebeteten zu Hilfe zu eilen, bleibt er wie vom Blitz getroffen stehen und lässt das Sektglas zu Boden fallen: Die Decke bis ans Kinn hochgezogen, starrt ihn vom Bett aus Sascha Safonov mit weit aufgerissenen Augen entsetzt an, während Olga ihre Hände schützend vor den nackten Oberköroper hält.

Pjotr Olegowitsch stürzt in sein Zimmer zurück, umklammert mit beiden Händen den Kopf und krümmt sich vor Schmerz und Verzweiflung.

Als wir nach den Winterferien in die Schule kommen, haben wir eine neue Sportlehrerin und einen Schüler weniger in der Klasse: Sascha Safonow habe, wie seine Eltern sagten, wieder zu seinen Großeltern nach Irkutsk zurückfahren müssen – aus gesundheitlichen Gründen.

Doch die Geschichte hat sich herumgesprochen, und so gut wie alle kannten die wahren Gründe.

Die Jungs erzählten, sie wären in der Silvesternacht in eine fast unbekannte Gesellschaft hineingeraten, nachdem wir uns auf der Fete verzankt hatten. Die Sportlehrerin war eigentlich die Einzige, die sie kannten. Olga sei in dieser Nacht sehr ausgelassen gewesen, und dann wäre sie irgendwann mit Sascha verschwunden.

Für mich brach eine Welt zusammen, doch ich war bemüht, mir nichts anmerken zu lassen. Meinen Kameraden war ich dankbar, dass sie dieses Thema in meiner Anwesenheit nie ansprachen, alle taten so, als ob es Sascha nie gegeben hätte.

Doch er brachte sich in Erinnerung.

Einige Tage nach dem Skandal gab mir seine Mutter nach dem Unterricht im Theaterzirkel einen Brief: „Der ist von Sascha. Ich weiß nicht, was er dir schreibt, aber du musst ihm verzeihen. Versuch’ es zumindest. Irgendwann später, viel später, wenn du wirklich erwachsen bist, wirst du ihn vielleicht verstehen und ihm verzeihen können.“

Die Buchstaben tanzten vor meinen Augen, als ich die paar Zeilen las: „Liebe Emmi! Wir werden uns wahrscheinlich nie wieder sehen. Das zerreißt mir das Herz. Ich kann nur mir die Schuld geben, aber es ist nichts mehr zu ändern. Es ist so, wie es ist, leider. Doch ich will, dass du eins weißt: Ich werde dich immer lieben, nur dich, mein Leben lang – Sascha.“

 

Wenn man den Deutschen ihren Willen lässt …

„Dein Vater hat für dich eine Überraschung!“, gibt die Verkäuferin Sinka in fröhlichem Singsang von sich und lächelt mir augenzwinkernd zu.

„Hat dir was ganz Tolles gekauft, heute Morgen!“, müht sie sich weiter ab, da ich nicht reagiere, und grinst mich breit an.

Vor Wut wird mir ganz schwarz vor Augen, ich kann mich nicht beherrschen und brülle Sinka in ohnmächtigem Zorn an: „Du weißt doch ganz genau, dass ich keinen Vater habe!“

Sinka weicht erschreckt zurück, murmelt etwas von einer Irren, aber ich habe schon die Tür zugeknallt und stürme nach Hause, mit der Absicht, reinen Tisch zu machen. Doch ehe ich so richtig in Fahrt kommen kann, wird mir der Wind aus den Segeln genommen. Es ist keiner da, an dem ich meine Wut auslassen kann.

Beim Abendbrot sehe ich keinen an, starre in meinen Teller und sage beim mit vor Zorn bebender Stimme: „Hören Sie auf, mich Tochter zu nennen! Ich bin nicht Ihre Tochter! Sie sind bloß der Mann meiner Mutter, also sind wir nicht einmal verwandt …“

Ich springe wütend auf, renne aus der Küche und schlage mit Wucht die Tür hinter mir zu. In der Stille klingt der Knall besonders laut – wie eine Explosion.

Zurück bleiben Mama und ihr Mann, wie ich ihn absichtlich verächtlich nenne. Sie schweigen. Schweigen sehr lange, fast eine Ewigkeit.

Irgendwo tief in meinem Inneren regt sich etwas wie Scham, denn ich habe das vage Gefühl, dass weder der Mann, noch Mama und ich für diese verfahrene Situation etwas können.

Dabei gibt sich der Mann doch so viel Mühe, macht mir ständig kleine Geschenke, die manchmal an Wunder grenzen: Mal finde ich eine Mandarine (wenn auch gefroren) auf meinem Tischchen, mal einen Apfel, mal eine Praline.

Ich verstehe diese Regungen, bin dankbar, aber mein Herz ist ein Eisklumpen.

Seitdem wir bei Onkel Alex lebten, ging es uns mit einem Schlag besser. Die Not schien überwunden, von Hunger war keine Rede mehr, Mama hatte sich so weit erholt, dass sie arbeiten gehen konnte; sie hatte eine gute Stellung gefunden. Da sie sehr gut kochen konnte, hatte man sie als Köchin in der Werkskantine eingestellt. Mit zwei Gehältern ließ sich gut wirtschaften, und Mama meinte gelegentlich siegesfroh: „So, und wer hat letztendlich recht behalten, deine neunmal kluge Schuldirektorin oder ich? ‚Ich denke da an eine Adoption!’“, äffte sie Lydia Iwanowna nach.

Solche Gespräche stürzten mich jedes mal in den Strudel der Schuldgefühle, mit denen ich immer wieder kämpfen musste, denn ich war davon überzeugt, dass Mama sich für mich und meine Zukunft geopfert hatte.

Doch ich musste mir auch eingestehen, dass sie keineswegs wie ein Opfer aussah, mehr noch, sie lebte regelrecht auf, und wäre sie nicht so alt, könnte man behaupten, sie sei aufgeblüht. Aber was heißt zu alt? Sie war ja erst 55! Doch damals schien sie mir uralt.

Trotz meiner Gewissensbisse ging es Mama also sehr gut, und es dauerte eine Zeitlang, ehe ich begriffen hatte, warum: Sie war kein Anhängsel mehr, sondern Herrin im eigenen Haus, sie konnte tun und lassen, was sie wollte, ohne immer wieder auf die Umstände und Launen anderer Rücksicht nehmen zu müssen, und den Haushalt, ihren eigenen Haushalt! so führen, wie sie es für richtig hielt.

Es dauerte nicht lange, da grunzte schon das erste Schwein im warmen Stall, den Onkel Alex am Haus anbauen musste. Im Sommer kamen noch zwei Ferkel und eine Schar Hühner dazu, und in dem kleinen Treibhaus an der geschützten Wand gab es Kräuter und sogar mindestens drei, vier echte Gurken, die gepflückt ein betäubendes, in den vier Jahren gänzlich vergessenes Aroma in der Küche verbreiteten!

Der größte Teil von Schweine- und Hühnerfleisch, Eiern und Kräutern wurde verkauft und zu Geld gemacht, aber für uns blieb auch noch genug übrig.

In der Siedlung bewunderte man Mamas Fleiß und Rührigkeit und meinte anerkennend: „Ist ja auch kein Wunder, die Deutschen können eben wirtschaften. Wenn man denen ihren freien Willen ließe, würden sie diese Eiswüste in einen blühenden Garten verwandeln!“

Nicht, dass es keine Rückschläge in dieser tückischen kalten Eiswüste gab! Um ihre Tücken zu umgehen und zu überleben, musste man Erfahrung und Findigkeit an den Tag legen, und Mama war darin kaum zu übertrumpfen. Trotzdem trieb die Tundra auch mit meiner Mutter immer wieder ihre Spielchen.

Eines Nachts hatte sie verschlafen und versäumt, rechtzeitig Kohle in den Ofen zu werfen. Am nächsten Morgen verwandelte sich nicht nur das Wasser in den Eimern und im Kübel in der Küche in riesige Eisklumpen, sondern auch wir wären in unseren Betten beinahe erfroren, denn die Zimmertemperatur sank in der Nacht unter Minus 30 Grad.

Ein anderes Mal holte sie, statt der im Herbst geschlachteten und auf dem Dachboden für den Winter gelagerten Hühner, eine Kiste morscher Geflügelkörper herunter – infolge der enormen Minustemperaturen hat sich das Fleisch in Staub verwandelt.

Einmal gelang es ihr zu erreichen, dass sich die Zahl unserer Bettlaken auf die einfachste Art verdoppelte! In Gorki und den Kostromawäldern hängten die russischen Bäuerinnen ihre Wäsche im Winter immer draußen auf: Im Frost, behaupteten sie, würden die Laken sauberer, frischer und weißer werden. Dagegen war eigentlich nichts einzuwenden, aber hier, bei minus 50 Grad? Das Ergebnis sah Mama, als sie die Bettwäsche von der Leine holen wollte: jedes Laken brach am Knick säuberlich in zwei gleiche Teile! Mama ärgerte sich nicht lange, nähte die Laken wieder zusammen, meinte, es sei doch kein Weltuntergang, schließlich passierten solche Katastrophen nicht oft.

Bei dieser Hülle von Arbeit hatte Mama plötzlich wieder Zeit, sich um meine „Erziehung“ zu kümmern: „A deitsches Mädle muss alles macha kenna“, pflegte sie zu sagen, „näha, stricka, sticka, strimpf un socka stopfa un a noch a gute Hinersupp kocha un a Riwelekucha backa.“

Ich sträubte mich mit Händen und Füßen dagegen und las lieber in einem Buch. Doch Mama hatte nach wie vor wenig Verständnis dafür, fand, ich übertriebe und hielt, trotz ihres Traums von einer „studierten“ Tochter, eine gestopfte Socke immer noch für wesentlich nützlicher als ein durchgelesenes Buch.

Das Abitur rückte unerbittlich näher, und so nahm sich Mama zusammen und steckte ihre Forderungen zurück, zumal ich schon so weit war, das ich zur Not den Titel „Deitsches Mädle“ gerade noch hätte erringen können.

 

Die erste Schwalbe

Der Winter vor dem Abitur war besonders kalt, und da für uns jetzt der Ernst des Lebens, besser gesagt, des Lernens, begann und wir nicht mehr so viel Zeit auf der stundenlangen Fahrt vertrödeln, sondern diese für die Vorbereitung aufs Abitur nutzen sollten, wurden wir in den Familien unserer Mitschüler in Mjaundsha untergebracht.

Und so war ich wieder in dieser fremden, heilen Welt gelandet, in der Welt der Reichen, mit Dienern in jedem Haushalt, mit Zentralheizung, die für wohlige Wärme in der ganzen Wohnung sorgte, mit einer warmen Toilette und einem Bad! Einem richtigen Bad, mit einer richtigen, großen Badewanne! Nicht so ein kleines Blechwaschbecken, wie wir es bei uns zu Hause hatten!

Ob ich auch mal darf?

„Meinetwegen kannst du den ganzen lieben Tag da drin verbringen“, lacht Tanjas Mutter über meine Begeisterung für solche gewöhnlichen Dinge, in ihren Augen „Dinge“.

Ihr Angebot wird gerne angenommen: jeden Abend schleiche ich mich vor dem Schlafengehen ins Bad, lass’ die Badewanne bis an den Rand voll laufen, schließe die Augen und lasse mich langsam und genüsslich ins Wasser gleiten. Dann liege ich stundenlang regungslos im warmen Wasser und träume von Sonne und Meer, von warmen Sonnenstrahlen, einfach von Wärme, Wärme, Wärme. O, ja so lässt sich die klirrende Kälte draußen ertragen!

Erst jetzt wird mir so richtig bewusst, dass man es auch auf der Kolyma aushalten kann, wenn man warme Kleidung hat, nicht in im Bus zur Schule fahren muss in der Kälte, die einem den Verstand raubt und die Sinne durcheinander bringt, wenn man einfach die paar Schritte zum Wohnblock macht und dann in die wohlige Wärme des elterlichen Heims eintaucht, sich nicht vermummen braucht und einem nicht die Füße erfrieren, weil der Kohleofen es nicht schafft, das Zimmer warm zu halten.

Hier, in diesen Häusern „städtischen Typs“, lebte die örtliche Nomenklatura, die die Geschicke dieser Region der Kolyma lenkte, vom kleinen Angestellten in der Verwaltung bis zum ganz großen Boss, dem uneingeschränkten Herrscher über die Kohle- und Goldförderung und die Menschen, die das bewerkstelligen mussten.

Hier war alles anders: man aß nicht, man tafelte an einem nach allen Regeln gedeckten Tisch, die Diener von den Häftlingen servierten eine Delikatesse nach der anderen, die Herrin des Hauses, eine gepflegte Dame mit hochgesteckter Frisur und grellroter Maniküre, gab leise Anordnungen, man unterhielt sich kultiviert und man hörte Musik.

Da war es warm, bequem und vornehm. Ich aber wollte weg, trotz Bad, Delikatessen und Diener – oder gerade deshalb? Wollte weg, weil ich mich nicht wohl fühlte, nicht dazu gehörte.

Ich sehnte mich nach meiner ärmlichen Behausung, auch wenn ich da oft in einige Decken gehüllt vor dem Ofen sitzen und mir die Hände wärmen musste.

Das Jahr 1955 neigte sich seinem Ende zu. Zwei Jahre waren seit Stalins Tod vergangen, doch unsere Situation hatte sich nicht geändert: Immer noch mussten sich die Sondersiedler jeden Monat beim Kommandanten melden, und allmählich schwanden die anfänglichen Hoffnungen auf Veränderungen.

Meine Lage war da besonders prekär, denn wie sollte ich nach dem Abitur ein Studium aufnehmen, wenn ich das Gebiet nicht verlassen durfte? Und gerade das besagte ja der große viereckige Stempel in meinem Personalausweis.

Der Kommandant, den Eddie und ich in dieser Angelegenheit aufsuchten, zuckte nur bedauernd die Schultern und meinte gelassen, als Eddie aufbrauste und drohte, ich würde ohne Erlaubnis der Kommandantur abreisen: „Dann bringt man sie zurück, und womöglich gleich in ein Lager, als Häftling, weil sie geflohen war. Sie müssen bedenken, Bürger Wagner, Ihre Schwester ist schon volljährig.“

Die übliche Anrede „Genosse“ durfte in Bezug auf uns – und übrigens alle anderen Bürger mit begrenzten Rechten und auch ohne solche – nicht gebraucht werden. Uns störte es auch nicht besonders, denn wir waren wirklich nicht deren Genossen.

Anfang 1956 bekam Eddie Post von seinem Freund und meinem ehemaligen Deutschlehrer Vitalij Andrejewitsch, der jetzt in Perm, im Ural, wohnte und dort an der Uni unterrichtete. Das, was er in seinem Brief schrieb, klang so ungeheuerlich und unwahrscheinlich, dass wir es einfach nicht glauben konnten: Im Dezember 1955 sei ein Dekret des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR verabschiedet worden, laut dem die Beschränkungen in der Rechtsstellung der deutschen Sondersiedler aufgehoben wurden! Das Dokument trage zwar die Aufschrift „Nicht für die Veröffentlichung in der Presse“, aber es sei hundertprozentig wahr, er habe es aus einer zuverlässigen Quelle erfahren.

Eddie lief sofort zum Kommandanten, doch der wusste selbstredend von nichts!

Wir lebten wie auf einem Vulkan, alles drehte sich jetzt nur um das Dokument, das keiner gesehen und von dem, außer uns, auch niemand gehört hatte.

Dann fasste Eddie einen Entschluss. Er wandte sich mit einer Anfrage an den damaligen Vorsitzenden des Obersten Sowjets der UdSSR K.E. Woroschilow und begründete sie damit, dass ich, seine Schwester, womöglich nicht rechtzeitig zu den Aufnahmeprüfungen an der Universität erscheinen und so meine große Chance verpassen kann.

Mama geriet in Panik, als sie das las: „Du unterstellst ja den örtlichen Behörden Unvermögen und Trödelei! Was glaubst du, was sie dir sagen werden, wenn aus Moskau eine Antwort kommt? Wenn überhaupt, übrigens! Du glaubst doch nicht, dass Woroschilow dir antworten wird!? Und dann haben wir sie wieder am Hals. Die Zeiten können sich wieder ganz schnell ändern, und dann Gnade uns Gott!“

Doch Eddie ließ sich nicht beirren, ging zur Post und gab die Sendung als Einschreibbrief auf. Wir warteten. Doch nichts geschah.

 

Die Schreckensmeldungen

Wenn man genau hinhört, kann man die Luft in unserer Siedlung knistern hören, so geladen ist hier in letzter Zeit die Atmosphäre. Allmählich reißt den Menschen die Geduld. Das lange Warten zerrt an den Nerven, die Aussichtslosigkeit treibt so manchen in die Verzweiflung. Es häufen sich Selbstmorde von seelisch und physisch gebrochenen Menschen, die an nichts mehr glauben können und keine Kraft mehr haben, weiterzuleben. Man erzählt, dass es besonders schlimm im Gefangenenlager ist, allein in der letzten Woche soll es da drei Selbstmorde und zwei Selbstmordversuche gegeben haben. Was ist das auch für ein Leben? Dieses Dahinvegetieren ohne Hoffnung, ohne Zukunft.

Eines Tages fallen Schüsse, sie kommen irgendwo vom Berg oben her, aus der Richtung, wo die Kohlengrube ist. Als man endlich oben anlangt, bietet sich den Herbeigeeilten ein grausiges Bild: Vor dem Häuschen der Wachmannschaft am Eingangstor liegen, die Arme weit ausgebreitet, drei Soldaten in Blutlachen.

Ein junger Soldat ohne Mütze und obligatorischem Halbpelz steht regungslos davor. Er scheint die beißende Kälte und den schneidenden Wind nicht zu merken und starrt entsetzt seine im Blut liegenden Kameraden an. Man will ihn wegbringen, doch der junge Mann sträubt sich, er steht unter Schock.

Allmählich wird klar, was passiert ist.

 

Es war Mittagszeit, und die Wachsoldaten wollten gerade etwas zu sich nehmen. In der Wachstube war es sehr warm, und so zog man die Halbpelze aus, legte die Pudelmützen und Maschinenpistolen auf die Bank am Eingang und machte es sich am Tisch bequem. Die Soldaten waren guter Dinge, scherzten und lachten; der Dienst in der Wachmannschaft hier oben war nicht beschwerlich.

Den diensthabenden Häftling, der in diesem Moment mit einem Arm voll Holzscheite in die Wachstube kam, beachtete keiner. Der legte ein Scheit nach dem anderen in den Ofen, schüttete einen Eimer Steinkohle darauf und sah plötzlich die achtlos auf die Bank geworfenen Maschinenpistolen.

Es ist schwer zu sagen, ob es ein Kurzschluss oder ein von langer Hand vorbereiteter Fluchtversuch war. Auf alle Fälle schnappte sich der Häftling blitzschnell die drei Waffen, rannte zur Tür und befahl den Wachsoldaten zurückzubleiben. Als sie trotzdem versuchten, ihn weiter zu verfolgten, „mähte“ er die Wachmannschaft aus einer Maschinenpistole buchstäblich nieder.

Dann lief er hinaus durch das Tor der Kohlengrube, suchte Schutz hinter einer der Halden, ehe er zu einem mit lichtem Wald bewachsenen Hügel rannte.

Er kam nicht weit. Ein Wachsoldat auf einem der acht Wachtürme um die Kohlengrube herum hatte den Flüchtenden bemerkt und ihn mit einer Schusssalve niedergestreckt.

Der Entflohene hatte sowieso keine Chance, denn jetzt im April war es hier immer noch winterlich kalt, und kein Mensch konnte längere Zeit in der freien Natur überleben. Also wäre er verschollen, irgendwo in der kalten Eiswüste erfroren und verwest, wie die Leichen der Häftlinge im unteren Lauf unseres Flüsschens, deren Gebeine Kinder vorigen Sommer beim Pilzsammeln entdeckt hatten.

Damals hatte Sergej, ein Junge aus unserer Siedlung, einen Menschenschädel gefunden, am Fluss in der Schlucht zwischen zwei Bergen, weit weg von unserer Siedlung. Die Gegend galt als verrucht, die Berge, munkelte man, zögen das Unglück regelrecht an. Einmal war an einem der Berge ein Flugzeug zerschellt, ein andermal war in der Schlucht eine Gruppe von Geologen verschwunden. Und es sollen da noch andere, viel schlimmere Dinge passiert sein.

Das dunkelste Geheimnis aber war mit den Sicherheitsorganen, dem NKWD, verbunden. Es hieß, sie hätten in diese Schlucht immer wieder „abgearbeitetes Material“, Häftlinge, die arbeitsuntauglich geworden waren, gebracht und diese dort zu Hunderten hingerichtet.

Den Beweis lieferte die missbrauchte Natur vorigen Sommer, als infolge der für diese Breitengrade ungewöhnlich hohen Lufttemperaturen das Wasser im Fluss fast bis zum Grund aufgetaut war und die durchwärmte Oberfläche des sonst ewigen Frostbodens die Gebeine der Getöteten freigab.

Auf diese makabre Weise fanden die sterblichen Überreste von tausenden Martyrern doch noch den Weg in die Freiheit.

Die Siedlung war in Aufruhr. Man traf zwar strenge Vorkehrungen, aber die Gerüchteküche begann zu brodeln, und erst die totale Abriegelung des Gebiets durch eine NKWD-Einheit brachte die Siedlung einigermaßen zur Ruhe.

Jahrzehnte später, als das Sowjetregime zusammenbrach, konnte man immer wieder neue Publikationen über Tausende in solchen Massengräbern verscharrte Häftlinge lesen.

Als wäre es der Toten nicht genug, erreichte uns in diesen Tagen die schlimmste Nachricht, die alle Einwohner unserer Siedlung betroffen machte: Eines Abends fand man Tante Nina tot in ihrer Wohnung auf. Sie hatte sich im Schlafzimmer am Querbalken an einem Hacken erhängt.

Der Schock, den der Tod der in der ganzen Siedlung beliebten Frau hervorrief, saß tief.

Man erzählte viel unsinniges Zeug, stellte Vermutungen an, eine abenteuerlicher als die andere, doch all das änderte nichts an der Tatsache, dass Tante Nina wegen Oleg in den Tod gegangen war, denn er hatte sie einige Wochen nach seiner Entlassung aus dem Lager ganz plötzlich verlassen.

Ich erinnerte mich an ihre Worte, dass Liebe nicht immer Freude und Glück bringt, dass sie auch wehtun kann. Dass Liebe oft mit Leid verbunden ist, mit Schmerz, dass sie auch Opfer verlangt.

War ihr Tod nun so ein Opfer? Und warum musste sie dieses Opfer bringen und nicht Oleg, den sie liebte und für den sie sich sowieso schon geopfert hatte?

Es ging das Gerücht um, Tante Nina habe die Möglichkeit, Oleg zu sehen und ihm in der Hölle des Lagers überleben zu helfen, mit ihrem Körper bezahlt. Ein Wachmann soll sie zu diesem Kuhhandel gezwungen haben. Für ihre „Gefälligkeit“ schmuggelte er für Oleg Kleidung und Nahrungsmittel ins Lager.

Als Oleg davon erfuhr, ging er einfach weg. Für Tante Nina hatte das Leben jetzt keinen Sinn mehr, drum warf sie es einfach weg.

So wurde die große Liebe zweier Menschen von einem brutalen Soldatenstiefel unbarmherzig zertret-

 

Die Antwort aus Moskau

Die Fahrt von der Schule nach Hause dauerte an jenem Tag besonders lange. Der Motor des Schulbusses versagte einige Male seinen Dienst, und wir liefen Gefahr, im Schneegestöber stecken zu bleiben. Eine unangenehme Situation, zumal es schon Dunkel geworden war und unsere Siedlung noch ziemlich weit entfernt lag.

Wäre uns dieses Missgeschick auf der Fahrt zur Schule passiert, hätten wir uns über die Möglichkeit einige Stunden zu schwänzen gefreut, aber auf der Rückfahrt?

Jetzt, gegen Abend, wollten wir alle nur noch nach Hause, in die Wärme, in die Geborgenheit, weg von der schaurigen Kälte, weg von der tintenschwarzen bedrohlichen Dunkelheit hinter den Fenstern.

Dann fiel uns auf, dass unser Fahrer ziemlich nervös war. Wir wurden es auch, als er uns mitteilte, dass der Kohlevorrat für unseren provisorischen Ofen im Bus fast aufgebraucht war.

„Wenn bald kein Laster vorbeikommt und Hilfe herbeiholt, gnade uns Gott!“, meinte der Fahrer in Panik. „Den Morgen werden wir dann nicht mehr erleben.“

Er hatte recht, denn obschon wir uns auf der „Strasse des Lebens“ befanden, der über 700 Kilometer langen Zentraltrasse von Magadan nach Arkagala, war hier der Verkehr nicht besonders rege und schon gar nicht zu dieser Zeit. So könnte das nächste Fahrzeug erst morgen Früh oder auch später vorbeikommen.

Zu unserem Glück aber kam eins am späten Abend, weil die Eltern Alarm geschlagen und die Grubenleitung einen Laster zu uns rausgeschickt hatten.

So waren wir wieder mal mit dem Schrecken davongekommen.

Zu Hause treffe ich Eddie und eine aufgeregte Mama an. Sie hält einen Zettel in der Hand und ist den Tränen nahe.

„Was ist?“, sehe ich mich erschreckt in der Runde am Tisch um. „Ist was passiert?“

„Ich habe eine Vorladung bekommen“, sagt Eddie.

„Eine Vorladung? Von wem?“

„Vom Kommandanten, morgen Nachmittag soll ich bei ihm erscheinen“, äußert Eddie wortkarg.

„Und was will man von dir?“

„Wer weiß?“

Mama zetert herum, meint, das sei alles wegen dem Brief an Woroschilow, man habe sich nicht so weit hinauslehnen sollen, der Brief sei ein Fehler, ein Herausforderung gewesen, das habe sie schon immer gesagt, eine Herausforderung.

„Ich hab’ euch immer gesagt, ihr sollt euch zurückhalten, nicht die Aufmerksamkeit auf euch lenken, wer weiß, was jetzt kommt!“

Sie lamentiert herum und macht uns bloß noch nervöser, als wir schon sind.

Dann braust Eddie auf: „Ich will nicht, dass wir hier verfaulen, wir müssen hier weg, aber dafür muss man etwas tun, Mama!“ Er geht und schmeißt die Tür ins Schloss.

Wir verbringen eine schlaflose Nacht; in der Schule bin ich am nächsten Tag überhaupt nicht bei der Sache. Nach der Schule laufe ich als erst zu Eddie und sehe schon von der Tür aus, dass es gute Neuigkeiten gibt.

Mein Bruder ist auch aufgeregt, sagt nur „Die Antwort aus Moskau ist da!“ und reicht mir ein Papier.

Ich bin bestürzt: Es geht um mich, nur um mich, weder Eddie noch Mama werden im Schreiben erwähnt. Und es heißt darin, ich könne ausnahmsweise neue, „saubere“ Papiere beantragen, da ich von nun an keine „Sondersiedlerin“ mehr sei! Ich lese das Papier noch einmal und noch einmal aufmerksam durch. Hört sich verrückt an, aber es scheint alles wahr zu sein!

„Und du und Mama?“, schaue ich vom Blatt in meiner Hand hoch. „Was ist mit euch, Eddie?“

„Ist alles in Ordnung!“ Eddie kann seine Freude kaum zurückhalten. „Der Kommandant hat mir etwas gezeigt, scheint das gleiche Dokument zu sein, von dem Vitalij Andrejewitsch geschrieben hatte. Laut Kommandant tritt die Verordnung über unsere Befreiung in ein paar Monaten in Kraft, so dass wir schon nächstes Jahr von hier weggehen können!“

Dann überstürzten sich die Ereignisse.

Eines Tages brachte der Postbote einen dicken Brief für Eddie. Der war wieder mal von Vitalij Andrejewitsch. Er berichtete Sachen, für die man noch vor ein paar Jahren mindestens 10 Jahre Haft wegen Hochverrats aufgebrummt bekommen hätte: Die Deutschen dürften neuerdings nach Deutschland auswandern, wenn sie wollten!

Diese Zeile las Eddie schon im Flüsterton vor, so ungeheuerlich und gefährlich kamen sie ihm, aber auch uns allen vor.

Ein Irrtum war ausgeschlossen: Vitalij Andrejewitsch hatte dem Brief Antragsformulare, die er für uns in der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland bekam, und eine Liste der notwendigen Papiere beigelegt.

Die nächsten Tage verliefen hektisch: Eddie sammelte mit fieberhafter Geschäftigkeit Unterlagen, füllte Anträge für die ganze Familie aus, auch für seine russische Frau, die Kinder und Onkel Alex. Mama fand keine Ruhe, hatte eine Heidenangst um Eddie und uns alle, stand Höllenqualen aus und versuchte ihren Sohn umzustimmen: „Deutschland hat uns schon einmal ins Unglück gestürzt, jetzt kommen sie wieder damit …“

Doch Eddie will seinen Traum nicht aufgeben, und ich stehe zwischen zwei Lagern. Das ferne Land, mit dem mich und die meinen das Schicksal auf eine so enge Weise verbunden hat, ist mir fremd, aber auch hier, wo ich mich schon zu Hause fühlen könnte, versucht man mich immer wieder daran zu erinnern, dass ich eine Fremde bin, nicht dazu gehöre und noch dazu den wesentlichen Makel habe, ein Feind zu sein.

Vielleicht wird sich das in Deutschland ändern?

Ich überlasse die Entscheidung Eddie und Mama, die sich immer öfter in die Wolle kriegen. Mama würde schon nachgeben, aber als gebranntes Kind hat sie fürchterliche Angst vor den Konsequenzen.

„Vergiss nicht, in was für einem Land wir leben!“, schreit sie dann Eddie verzweifelt unter Tränen an. „Du stürzt uns alle ins Unglück mit deinen Träumen. Euer Vater hat auch mal seinen Kopf durchsetzen wollen, und was hat ihm sein Traum von Deutschland eingebracht? Zehn Jahre! Kannst du mir vielleicht sagen, wo er heute ist?“

Es hilft alles nicht, der Beschluss ist gefasst und Eddie setzt an dieser Stelle einen Punkt, einen gewichtigen, fetten Punkt.

Mama hält griesgrämig die Stellung, näht aber fleißig unter das Futter meiner Jacke unzählige Taschen ein. Darin werden vor meiner Abreise zum Studium unsere Ausreiseunterlagen versteckt, um sie sicher nach Moskau zu schmuggeln.

Fortsetzung folgt

 

 

 

 

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