Lesung: Die schenste Sproch uf der ganza Welt (30.09.2018)

 

Н. Косско - Nelli Kossko

 

An allem war mein Germanistikstudium schuld. Als dieses Wort im Familienrat fiel, schauten alle überrascht zu meinem ältesten Bruder Richard auf, denn keiner von uns wusste, was man mit diesem so fremd anmutenden Begriff anfangen sollte. Nach Sekunden betretenen Schweigens legte dann unsere resolute Oma los:

- Awer jetzt han ich gnug! Zerscht redscht du wie a ufgepluschteter Hahn a Sproch, die koi Mensch verstehe kann, un nu des Wort do! Jetzt sag mr mol uf guot deitsch, was du von uns willscht! (Richard sprach Hochdeutsch zur größten Unzufriedenheit unsrer Oma, die diese Sprache für ein unter dem Einfluss des Russischen verdorbenes Deutsch hielt).

Richard, sichtlich überrascht von Omas Gefühlsausbruch, hob beschwichtigend die Arme:

- So hör doch zu, Oma! Germanistik ist nicht mehr und nicht weniger, als die deutsche Sprache und die deutsche Literatur. Du möchtest doch auch, dass unsere Liesel als deutsches Mädel...

Er kam nicht weiter, denn aus dem Grollen wurde Donner:

- Was soll se lerna? Deitsch?! Ja sag mol, Kerle, sen dir die Ohre mit Gras zugwachsa? Herscht net, wie guot das Kind deitsch reda tuot?!Du kennscht von unsrer Liesel ruhig mol a bissl Deitsch lerna, kuck numa wie du reda tuscht! Un bei wem solls Liesel Deitsch lerna, bei de Russa?! Ja bischt du denn von alle guote Geischter verlassa wora, dass du uns des antuon willscht?!

Damit ist wieder einmal das Stichwort für eine der unendlichen Diskussionen zwischen Richard und Oma gefallen, was wohl die „echte“ deutsche Sprache sein mag. Sie stritten und stritten, doch jeder blieb hartnäckig bei seiner Meinung: Mein Bruder nannte unseren Dialekt ein Kauderwelsch, und die Oma wollte auf keinen Fall sein Hochdeutsch als Deutsch akzeptieren. Schließleich stand die Oma wütend auf, ging in die Küche und begann am Herd so laut mit den Töpfen zu hantieren, dass man sein eigenes Wort nicht mehr verstehen konnte.

Sie war eine bemerkenswerte Frau, meine Oma. Nach dem Krieg in ein verschneites Dorf in sibirischen Urwäldern verbannt, lebte sie weiter, wie sie es von „dr Hoim gwohnt“ war. Das „Hoim“ war das Dorf Straßburg, eines der vielen deutschen Dörfer am Schwarzen Meer, in dem sie geboren und aufgewachsen war.

Aber auch in der kalten Fremde kleidete sie sich, kochte und sprach so, wie sie es gewöhnt war, als habe sich nichts geändert. Als einzige in unserem Dorf trug sie immer noch die alte Bauerntracht von früher: über dem weiten, in der Taille gerafften Rock, der ihr bis zu den Knöcheln reichte, trug sie eine dunkle Schürze, die an Sonntagen gegen eine himmelblaue mit selbstgehäkelten Spitzen ausgetauscht wurde. Der Stehkragen der miederartigen Bluse schien ihr majestätisches Haupt zu stützen, und das trotz der siebzig Lenze noch üppige Haar, das zu einem schweren Dutt gebunden im Nacken lag, war stets mit einem tadellos gebügelten Kopftuch bedeckt.

Die Leute in unserem Dorf mochten sie, obgleich sie nur schlecht russisch sprach. Da sie ihre Gewohnheiten durchaus nicht ändern wollte, begrüßte sie jeden – egal, ob Russe oder Deutscher - mit einem freundlichen „Guten Tag!“, weshalb man sie sehr bald die „Oma Gutentagin“ nannte. Der Name bürgerte sich so rasch ein, dass ihr eigentlicher Name – sie war eine geborene Arnold – in Vergessenheit geriet. Als es aber später immer öfter hieß „die Gutentags“, bat ich sie eindringlich, ihre Mätzchen zu lassen.

Meine Oma war stur, ließ aber auch mit sich reden, doch das Ergebnis fiel immer zu ihren Gunsten aus:

- Mei Kindle, ich biet de Leit die Zeit, wie mir dr Schnawel gwachsa isch, un wer mich net verstea tut, der solls lassa!

Es war aussichtslos, sie bekehren zu wollen, und so blieb sie die Oma „Gutentagin“, wir aber die „Gutentags“.

Sie wollte nicht, gar rein nichts von „dr Hoim“ aufgeben. Für sie gab es nur drei Heiligtümer auf dieser Welt: die Bibel, das „Reich“ und das Straßburg am Schwarzen Meer.

- Friher, - pflegte sie zu sagen, - friher, do warn das „Reich“ und Straßburg fir uns do. Jetzt awer hen mr koi Sraßburg me, mir missa „ins Reich“!

Von „friher“ und von „dr Hoim“ wusste sie spannend zu erzählen. Vom Duft der Felder, vom Geflüster der Grashalme und von der üppig aufgehenden Saat war da die Rede, vom Gesang der von den Feldern heimkehrenden Bäuerinnen, von den unüberschaubaren Weingärten, von der großen Sonne über der Steppe. Das war ihre Heimat, die sie nach dem Krieg für immer verloren hatte. Nun blieb ihr nur noch das „Reich“, mit dem sie immer mehr Hoffnungen verband. Schließlich trug das „Reich“ auch den Sieg in der Entscheidung über mein Germanistikstudium davon: mein Bruder ließ Germanistik Germanistik sein und sprach fortan nur noch vom Studium der „reichsdeutschen Sprache“. Ich reiste ab.

Von zu Hause kamen Briefe. Sachliche, mit vielen praktischen Hinweisen von Richard, wehmütig-traurige von der Mutter und ... wissbegierig, bäuerlich-schlaue von der Oma. Ihre Briefe waren ein einziger Satz von Anfang bis zu Ende, von Kommata und Punkten schien sie überhaupt keine Ahnung zu haben. Was mich aber schon bei der Lektüre des ersten Briefes stutzig machte, war die Tatsache, das er nicht in dem von ihr als die „schenste Sproch“ gepriesenen Dialekt geschrieben war: was ich da las, war nichts anderes als ein ungelenkes ... Hochdeutsch!

- Na warte, - dachte ich mir, - dich werde ich schon zur Rede stellen!

Und das tat ich während meiner ersten Ferien.

Ich hatte kaum abgelegt und alle begrüßt, als Oma mir ungeduldig, durch verschiedene Zeichen zu verstehen gab, dass sie mich unter vier Augen sprechen möchte. Ich tat ihr nicht den Gefallen, sondern erzählte ausgiebig über die Stadt, in der ich jetzt lebte, über meine Kommilitonen, kurz – über alles Mögliche. Nur von einem sprach ich nicht - von meinem Germanistikstudium. Die Oma saß da wie auf heißen Kohlen und versuchte, mich zu unterbrechen, aber ich ließ mich nicht beirren. Als sie dann beleidigt schwieg, ließ ich doch Gnade walten und sagte in die Runde, ich möchte nun der Oma in der Küche helfen. Als ob der Wind sie vom Stuhl gefegt hätte, eilte sie stürmisch mir voran. Und sofort begann das Verhör:

- Un was lernscht du denn so? Wie isch die reichsdeitsche Sproch? Kann mr se versteha?

Ich unterbrach sie sanft:

- Omilein, - sagte ich ganz leise, - würdest du mir bitte das „Vater unser“ aufsagen?

Sie war entsetzt:

- Waas? Das „Vater unser“? Do in dr Kich soll ich beta?! Mei Gott, du bischt krank, mei Kindle, des hoscht du nu vom viele Lerna!

Ich ließ nicht locker:

- Komm schon, - zerrte ich sie am Ärmel, - komm und lies mir mal etwas aus der Bibel vor.

Meine Anwandlung von Frömmigkeit stimmte die Oma friedlicher, sie nahm die Bibel in die Hand und begann zu lesen. Ob sie auch alles verstehe, was sie da lese, wollte ich wissen. Sie tat beleidigt:

- Awer des isch doch unsere Schriftsproch, wie soll ich des net versteha?

Die „Schriftsproch“ war ein ganz gewöhnliches Hochdeutsch, nur das es in Omas Lesart keine Umlaute aufwies. Das war also des Pudels Kern! Nun sah ich eine Möglichkeit, meine Großmutter mit der Germanistik oder, besser gesagt, mit dem Hochdeutschen zu versöhnen. Misstrauisch folgte sie meinen Ausführungen und wollte nicht eingestehen, dass ihre „Schriftsproch“ ein Hochdeutsch ist. Aber mir gelang es doch, Samen des Zweifelns in ihre Seele zu werfen. Ich besorgte ihr Bücher, sie las sie eifrig, verglich das Gelesene mit den Bibeltexten und wurde immer nachdenklicher.

Bald verlangte sie immer neue Bücher, die zu beschaffen in der UdSSR bei Gott nicht leicht war, zumal meine Oma nur die „deitsche“ Schrift akzeptierte, das heißt, die gotische. Dann kam der Zeitpunkt, als es schien, sie sei mit dem Hochdeutschen einigermaßen versöhnt, aber es zu sprechen weigerte sie sich, fest darin überzeugt, dass die „Schriftsproch zum Lesa un Schreiwa isch“, unser Dialekt aber zum „verzähle“.

Da zog ich wieder mit dem „Reich“ ins Feld:

- Du musst es aber lernen, Oma, wenn du ins „Reich“willst, sonst versteht dich da kein Mensch. Stell dir mal vor, du gehst da in ein Geschäft und verlangst nach Krumbera, Gelriwa, Kukomra oder rote Riwa.! Kein Mensch wird verstehen, was du eigentlich willst.

 

Der Gedanke, Deutsch sprechen lernen und sich „di Zung verdrehe“ zu müssen, wollte ihr gar nicht so passen, doch das „Reich“...

Sie tat ihr Bestes. Bald hörte man sie dann und wann die „Schriftsproch“ sprechen, nur mit den Umlauten wollte und wollte es nicht klappen.

Als sie dann doch „ins Reich“ kam, ging sie als erstes in einen Gemüseladen und sagte, mich argwöhnisch im Auge behaltend:

- Ich mechte bitte sche drei Pfund Kartoffeln, zwei Gurken, ein Bund Meren und finf rote Beete.

Und es hat geklappt!

Doch jedes mal, wenn sie nach Hause kam und die Tür hinter sich zumachte, sprach sie nur die „schenste Sprache uf dr ganza Welt“ – ein jahrhundertelang in Russland konserviertes Schwäbisch.

 

Krumbera -Kartoffeln

Gelriwa - Möhren

Kukomer – Gurke

 

 

 

 

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